Lebendige Erinnerung

Ein Wochenende mit den Kindern und Enkeln der ehemaligen Halberstädter Jüdinnen und Juden
Was bedeutet Migration für Juden, die Deutschland wegen des Naziterrors verlassen mussten, und deren Kinder und Enkelkinder bis heute? Mit dieser wichtigen Frage setzten sich Studierende des Studienganges „Europäisches Verwaltungsmanagement“ am Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz in einer Vertiefungsrichtung auseinander. Im Rahmen eines in das Studium eingebundenen Praxisprojektes in Kooperation mit der Moses-Mendelssohn-Akademie beschäftigten sich die Studierenden mit rechtlichen wie praktischen Fragen von Migration und Integration.

Die Moses-Mendelssohn-Akademie pflegt seit vielen Jahren ein Netzwerk von Ehemaligen Halberstädter Jüdinnen und Juden, die nach zwei Jahren Corona-Pandemie froh waren, vom 27. bis 29. Mai 2022 wieder nach Halberstadt kommen zu können. Für die Studierenden bedeutete das zunächst die ganz praktische Projektarbeit: Vorbereitung und Organisation des Treffens, Auswahl einer geeigneten Tour durch den Harz, Beschaffung der notwendigen Kostenvoranschläge für einen Bus, Planung von Pausen für das Picknick und die Suche nach einem geeigneten Café für den Nachmittag. Dazu kamen das Erstellen eines Finanzplans und des Förderantrags bei der Landeszentrale für Politische Bildung. Zur Vorbereitung gehörte aber auch die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Halberstädter Familien, die es geschafft haben, Deutschland rechtzeitig zu verlassen. Bei einem Stadtrundgang tauchen sie in die Geschichte ein und können sich langsam vorstellen, wer wo gewohnt hat und wo man sich zu Kultur- oder Tanzabenden getroffen hat.

Am Freitagabend berichtet Prof. Dr. Pablo Steinberg, Präsident des Max-Rubner-Institutes, wie er erst in den letzten Jahren das Wissen um seine Familiengeschichte vervollständigen konnte. Dabei haben ihm die Recherchen der Moses-Mendelsohn-Akademie geholfen. Er formuliert, was Erinnerung für ihn bedeutet: „Sehr wichtig ist für mich zu wissen, woher ich komme und zu wissen, was meine Wurzeln sind. Dadurch habe ich ein ganzes Stück eigene Identität entdeckt.“ Er bringt zum Ausdruck, wie wichtig es ist, das jüdische Erbe zu bewahren und diese Erinnerung lebendig zu halten. Dass das tatsächlich gelungen ist, haben auch Julia Hirsch in ihrer Dankesrede anlässlich des gemeinsamen Abendessens und Orli Bach während der Festveranstaltung am Sonntag im Rathaus deutlich gemacht – beide traten die Reise als Nachfahren jüdischer Familien aus Halberstadt an.

„Spätestens seit dem Anschlag auf die Hallesche Synagoge im Oktober 2019 wird immer wieder betont, wie wichtig Erinnerungsarbeit für Sachsen-Anhalt ist“, so Prof. Dr. Angela Kolb-Janssen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie es konkret gelingt, die Erinnerungen an die Vergangenheit lebendig zu halten. „Das Treffen der Halberstädter Jüdinnen und Juden hat gezeigt, dass Erinnerungsarbeit zwei Seiten hat: Sie ist zunächst einmal wichtig für diejenigen, die fliehen mussten und lebenslange Traumata zu bewältigen hatten. Das bestätigen auch deren Kinder und Enkel, die oft nichts von der Vergangenheit ihrer Eltern bzw. Großeltern wussten, da in den Familien nicht über die Vergangenheit gesprochen wurde“, berichtet die promovierte Juristin. Ihnen wird durch die Forschungen der Moses-Mendelssohn-Akademie ermöglicht, ihre Geschichte zu rekonstruieren und wie Pablo Steinberg es formuliert, ein Stück ihrer Identität zu finden. „Erinnerungsarbeit ist aber auch eine Aufgabe, die sich an alle Bürgerinnen und Bürger richtet. Nur durch eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sind sie in der Lage auf Hetze und Hassbotschaften, aber auch auf Bemerkungen im Alltag, die antisemitische Stereotypie bedienen, entsprechend reagieren und ihr Handeln darauf auszurichten, Diskriminierungen zu verhindern und allen Formen von Antisemitismus entgegenzutreten. Hier spielt die Ausbildung der Studierenden am Fachbereich Verwaltungswissenschaften eine große Rolle“, erklärt die Hochschullehrerin. Die Module der einzelnen Studiengänge und die Semesterübergreifenden Projekte bieten den Studierenden schon jetzt Möglichkeiten, interkulturelle Kompetenzen zu erlangen. Als zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Sektor tragen sie eine besondere Verantwortung für ein vorurteils- und diskriminierungsfreies Verhalten, nicht nur im Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit denen viele täglich in Kontakt kommen.

Die Erfahrungen, die die Studierenden im Rahmen des Projektes machen konnten, werden sie mit in ihr Berufsleben nehmen: „Der aktive Austausch und die spannenden Begegnungen mit der zweiten und dritten Generation ehemaliger Halberstädter Juden hat mir das Thema Erinnerungskultur nähergebracht und verdeutlicht, wie wichtig diese ist, um aus der Vergangenheit zu lernen. Ich durfte Halberstadts Geschichte, aber auch beeindruckende Persönlichkeiten kennenlernen, was mich sehr geprägt und bereichert hat“, resümiert Elisabeth Saar, Studierende des Fachbereichs Verwaltungswissenschaften.

Autorin: Prof. Dr. Angela Kolb-Janssen