Strategien zur Sensibilisierung gegen Antisemitismus in der öffentlichen Verwaltung

Ergebnisse des Semesterübergreifenden Projekts
Die Hochschule Harz und die Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt (MMA) haben zum 1. März 2022 eine Kooperationsvereinbarung geschlossen. Da sich auch die öffentliche Verwaltung einer zunehmenden gesellschaftlichen Diversität stellen muss, soll den Studierenden der Hochschule Harz durch entsprechend ausgerichtete Lehrveranstaltungen und Projekte ermöglicht werden, interkulturelle Kompetenzen zu erwerben und ihr Wissen über jüdische Geschichte und Kultur sowie zum Thema „Antisemitismus“ auszubauen. Damit werden sie in die Lage versetzt, in ihrer späteren Tätigkeit vorurteilsfrei gegen jede Form von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus agieren können.

Autorin: Prof. Dr. Angela Kolb-Janssen

20 Studentinnen und Studenten der Studiengänge „Öffentliche Verwaltung und „Verwaltungsökonomie“ sowie der institutionellen Studiengangsvarianten haben im Wintersemester 2021/22 und im Sommersemester 2022 an meinem Semesterübergreifenden Projekt “Jüdisches Leben und die Bekämpfung von Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ teilgenommen. Die Projektpartner waren neben der Moses Mendelsohn Akademie, der Ansprechpartner für Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus, die Landeszentrale für politische Bildung und der Verein ofek e.V., Träger einer Beratungsstelle für Betroffene von antisemitischer Gewalt sowie der neu eingerichteten Meldestelle. So konnten sich die Studierenden sowohl mit den theoretischen Grundlagen wie:

  • Begriff, Erscheinungsformen und aktuelle Entwicklungen von Antisemitismus
  • Jüdisches Leben, jüdische Geschichte und Traditionen in Sachsen-Anhalt
  • die systematische Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung von Juden im Nationalsozialismus
  • die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen nach dem 2. Weltkrieg
  • die Entwicklung von Erinnerungskultur und aktuelle Herausforderungen für deren Arbeit
  • Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus in Sachsen-Anhalt

auseinandersetzen, als auch die praktischen Problemstellungen in Sachsen-Anhalt analysieren. Dabei waren insbesondere die Einblicke in die Arbeit der Moses Mendelssohn Akademie und den Aufbau der neuen Dauerausstellung ein wichtiges Element. Hier konnte anhand der Entwicklung einer konkreten jüdischen Gemeinde deutlich gemacht werden, welche Auswirkungen die Vertreibung der Halberstädter Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten bis heute auf die Schicksale der Betroffenen und deren Kinder und Enkelkinder haben. Die MMA pflegt seit Jahren ein Netzwerk der ehemaligen Halberstädter Jüdinnen und Juden, die regelmäßig nach Halberstadt kommen und in Gesprächen vermitteln, was die Verbindung zur MMA und zum Museum für sie bedeutet. Einige haben erst durch diese Arbeit von der Schicksalen ihrer Eltern und Großeltern erfahren und damit ein Stück ihrer eigenen Identität wiedergefunden. Derartige Erfahrungen zeigen den Studierenden, dass Geschichte nicht abstrakt ist und dass menschliche Schicksale auch von Entscheidungen von Verwaltungsbehörden beeinflusst werden. Das war der Ausgangspunkt für die eigenständige Projektarbeit der Studierenden, die sich in vier verschiedenen Projektgruppen die ihre Aufgabenschwerpunkt selbst wählen konnten:

Antisemitismus-Projekte: Eine Broschüre für weiterführende Schulen

Die Studentinnen Luise Leitel, Alina Nitzschke, Isabel Rumler und Jennifer Schröder haben einen beidseitig bedruckten Flyers für Lehrer:innen erstellt, der Angebote von Gedenkstätten und anderen Einrichtungen in Sachsen-Anhalt zu den Themen „Jüdisches Leben“ und „Antisemitismus“ zusammenfasst. Er bietet einen guten Überblick, welche Angebote in den einzelnen Regionen genutzt werden können. In einem Begleitpapier werden das Ziel der Arbeit, die Vorgehensweise und Methode sowie Probleme und Herausforderungen dargestellt. Ausgehend von der Feststellung, dass es gerade in der jüngeren Generation einen Anstieg verharmlosender Einstellungen gegenüber antisemitischen Vorurteilen und Stereotypen gibt, begründen sie ihre Ansicht, dass Schulen das Thema Antisemitismus aufgreifen und den Schüler:innen Bezüge zwischen der Vergangenheit und aktuellen Entwicklungen vermitteln müssen. Dem in diesem Zusammenhang festgestellten fehlendem Wissen über die Vielfalt an Angeboten zur Auseinandersetzung mit diesem Thema wollen sie mit dem von ihnen entwickelten Flyer entgegenwirken und ein konkretes Angebot zur Unterstützung bieten. Auf der einen Seite wollen sie einen Anstoß dafür bieten, dass sich Lehrer:innen darüber Gedanken machen, ob sie dem Thema ausreichend Raum im Unterricht bieten, auf der anderen Seite soll die Broschüre ein möglichst niedrigschwelliges Angebot sein, das dazu anregt, bestehende außerschulische Bildungsangebote stärker zu nutzen. Für den Norden von Sachsen-Anhalt wurde festgesellt, dass es an Angeboten mangelt und entweder auf überregionale Angebote zurückgegriffen, oder Fahrten nach Magdeburg oder in andere Regionen geplant werden müssen. Wegen der in vielen Regionen nicht ausreichenden Breitbandversorgung, sind Online-Angebote nicht aufgenommen worden.

Eine problembezogene Analyse der Ausgangslage in Grundschulen

Die Studentinnen Pia Möller, Clara Schumann, Anja Schölzel und Paula Naue haben Interviews mit Leiter:innen von Grundschulen geführt und anhand von Beispielfällen aufgezeigt, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen bereits für Grundschulen hat. Mit drei Handlungsempfehlungen bieten auch sie Lösungsvorschläge: Die 1. Handlungsempfehlung richtet sich direkt an das Kultusministerium, das für die Bereitstellung angemessenen und altersgerechten Lehrmaterials sorgen soll. Darüber hinaus sollen auch Grundschulkindern Exkursionen zu jüdischen Gedenkorten ermöglicht werden. Die Studentinnen haben Lesetipps für Grundschüler:innen und ein Arbeitsblatt zusammengestellt, die einen guten Zugang zu relevanten Themen bieten. Die 2. Handlungsempfehlung bezieht sich auf die Unterstützung durch Netzwerke, die Antisemitismus und Diskriminierung thematisieren und insbesondere Grundschulen Unterstützung bei der Vermittlung des Lernstoffs bieten können. Ein eigenes Budget für Projekttage, Exkursionen und die Beschaffung von besonderen Unterrichtsmaterialien wird als 3. Handlungsempfehlung formuliert und ist auf eine größere Selbstständigkeit der Schulen ausgerichtet. Die Fahrt in ein Museum oder zu einem Gedenkort soll nicht an den dafür notwendigen Fahrtkosten scheitern. Das gilt gerade für die Grundschulen, die im Gegensatz zu weiterführenden Schulen, kaum Zugang zu entsprechenden Förderprogrammen haben.

 

Maßnahmen der Kommunen zur Stärkung jüdischen Lebens

Empfehlungen für einen gelungenen Internetauftritt von Kommunen, der nicht nur die allgemeine Stadtgeschichte zeigt, sondern auch die Spuren jüdischen Lebens, die es bis heute in fast allen Kommunen Sachsen-Anhalts gibt, zeigen Lena Schulze, Juliane Tomesch, Laura Zahlbach und Sophie Hühnerbein. Ihr Ausgangspunkt ist: „Kommunen können sehr viel zur Prävention von Antisemitismus tun!“ Dazu analysieren sie zunächst die Internetauftritte und zeigen anhand von Best-Practice-Beispielen, dass die Städte Halberstadt, Halle (Saale), Dessau-Roßlau und Magdeburg jüdisches Leben ganz selbstverständlich in die Präsentation der Stadt und ihrer touristischen Angebote integriert haben. Die von ihnen durchgeführten Interviews mit Akteur*innen zeigen, dass es an vielen Stellen nicht nur Potenzial, sondern auch den Wunsch zur engeren Zusammenarbeit gibt. Das führt sie zu dem Fazit, dass Kommunen den Willen aufbringen müssen, Veränderungen anzustoßen, um in Sachen Erinnerungskultur nachhaltiger zu agieren. Ausgehend von den festgestellten Handlungsbedarfen zeigen sie Möglichkeiten auf, wie Kommunen das Thema jüdische Geschichte und Kultur im Internet so darstellen können, dass Interesse geweckt und ein Bewusstsein geschaffen wird. Dazu haben sie verschiedene Kategorien von Vorschlägen entwickelt:

„Funfacts“ sollen einen positive Verknüpfung von Informationen mit dem Judentum nach dem Motto „Wusstest du schon …?“ herstellen und damit auch Bürger:innen ansprechen, die bisher keinen Zugang zum Thema hatten.

In einem Bereich „Historische Entwicklung“ soll die Möglichkeit genutzt werden, auf die eigene jüdische Stadtgeschichte hinzuweisen und Erinnerungsorte als außerschulische Lernorte wiederzubeleben. Unter der Kategorie „Lokales“ sollte die Vernetzung der Akteur*innen und deren Zusammenarbeit mit jüdischen Vereinen und Initiativen gefördert werden. Dadurch soll insbesondere eine positive Wahrnehmung der heute lebenden Jüdinnen und Juden erreicht werden und möglichst viele Bürger*innen aktiviert werden.

Im Ergebnis ihrer Analyse stellen die Studentinnen fest: es existieren überall jüdische Spuren (selbst in kleinen Dörfern), es gibt viele Fördermittel über Bund und Länder und die Realisierung von Maßnahmen wäre durch Kooperationen und die Aktivierung der Zivilgesellschaft ohne großen finanziellen Aufwand möglich. Berücksichtigt werden müssen allerdings die fehlende Infrastruktur im ländlichen Raum, der relativ große Aufwand bei der Aufbereitung historischer Quellen und die nicht immer ausgeprägte Medienkompetenz der Mitarbeiter:innen in den Kommunen. Durch die intensive Kommunikation mit einzelnen Interviewpartner:innen haben sie ein großes Interesse für die Ergebnisse des Projekts erreicht. Das Angebot wird von ihnen gern zur Verfügung gestellt.

Erarbeitung einer Website zur Sensibilisierung der Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung: „Leitfaden gegen Antisemitismus“

Die größte Projektgruppe, bestehend aus: Carsten Jänicke, Willi Schmidt, Tina Vogel, Paul Böhning, Fabian Sadowski, Eric Derra und Tobias Seelhöfer hat sich der Herausforderung gestellt, einen „Leitfaden gegen Antisemitismus“ zu erarbeiten und auf einer Website für Mitarbeiter:innen im Öffentlichen Dienst zur Verfügung zu stellen. Ziel ist, diese als Multiplikator:innen im Kampf gegen Antisemitismus zu gewinnen und mit dem digitalen Leitfaden aktuelle Informationen zu Fragen wie:

  • Was ist Antisemitismus und was sind seine Ursachen?
  • In welchen Formen wird Antisemitismussichtbar?
  • Wo liegen im Alltag die Grenzen von „spaßigen Bemerkungen“ und antisemitischen Äußerungen?
  • Was muss man über jüdische Feiertage wissen?
  • Welche Fortbildungsangebote zum Thema Antisemitismus gibt es für die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung?

Sie geben aber auch Hinweise, wie man in einer konkreten Situation Antisemitismus erkennen und entsprechend reagieren kann. Anhand wissenschaftlicher Studien wird aufgezeigt, welche Wirkungen antisemitische Beleidigung und Übergriffe für die Betroffenen haben. Damit wird gleichzeitig deutlich, wie wichtig präventive Strategien, Information und Aufklärung sind.

Für das Design der Website wurde ein eigenes Logo mit Themenbezug entwickelt, das einen hohen Wiedererkennungswert hat. Die Website ist so konzipiert, dass sie von einer nachfolgenden Projektgruppe weiterentwickelt und mit neuen und ergänzenden Inhalten gefüllt werden kann. Deren Aufgabe ist dann auch die Beantwortung der Frage, wie es gelingt, diese Website bekannt, d.h. möglichst vielen Mitarbeiter:innen im Öffentlichen Dienst zugänglich zu machen. Das könnte über die Verlinkung mit den Seiten von Kooperationspartner:innen wie der Websiten des Landes Sachsen-Anhalt, des Ansprechpartners für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus bzw. der Landeszentrale für Politische Bildung und der Gedenkstättenstiftung erreicht werden. Auch der Bildungsserver wäre eine gute Möglichkeit, um Lehrer:innen für das Thema zu interessieren und ihnen notwendige Informationen zugänglich zu machen. Auch die Studierenden dieser Projektgruppe sind mit ihrer Arbeit auf viel Interesse gestoßen. So haben viele Gedenkstätten Interesse an einer Weiterentwicklung signalisiert und wollen dazu Angebote machen.

Die Bewahrung von Demokratie und Toleranz, die Achtung der Menschenwürde, der Respekt gegenüber Andersdenkenden sowie die Gewährleistung der Vielfalt von Lebensweisen und Kulturen sind eine dauerhafte wie vordringliche Aufgabe, gerade auch für die unterschiedlichsten Bereiche der Verwaltung.

Die im „Landesprogramm für Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus“ niedergelegten Maßnahmen sind ein erster Schritt. Eine wirksame Bekämpfung von Antisemitismus setzt allerdings voraus, dass die systemischen Ursachen angegangen und eine gezielte Strategie zur Sensibilisierung der Mitarbeiteri:nnen in der öffentlichen Verwaltung entwickelt wird. Hierzu haben die Studierenden des semesterübergreifenden Projektes interessante und praktikable Ideen und Lösungsvorschläge entwickelt. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema werden sie auch nach Abschluss ihres Studium als Multiplikatoren in ihren jeweiligen Behörden wirken.

Für die betreuende Professorin war das erstmalige Angebot eines semesterübergreifenden Projektes mit dem Schwerpunkt Antisemitismus eine neue und sehr bereichernde Erfahrung. Obwohl bei den Studierenden nur auf wenig Vorkenntnisse zurückgegriffen werden konnte, war die Atmosphäre von Anfang an offen und von großem Interesse an den einzelnen Fragestellungen gekennzeichnet. Gerade für die Studierenden der institutionellen Variante wurde sehr schnell deutlich, dass es nicht um die Frage geht, ob Antisemitismus ein Thema ist, mit dem sich Verwaltung auseinandersetzen muss, sondern, welches die richtigen Instrumente für die Sensibilisierung der Mitarbeiter:innen sind.

Die Erfahrungen, die die Studierenden im Rahmen des Projektes machen konnten, zeigen, wie wichtig eine praktische Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ist. Deshalb wird es ab dem kommenden Wintersemester 2022/23 ein Fortsetzungsprojekt geben. Darüber hinaus sollten aber auch die Projektwoche und andere Lehrveranstaltungen genutzt werden, um möglichst vielen Studierenden einen Zugang zu diesem wichtigen Thema zu ermöglichen.


„Das Projekt war für uns nicht nur in Bezug auf das Thema Antisemitismus und dessen Relevanz im Verwaltungskontext sehr lehrreich, sondern hat uns auch die interessanten und schönen Aspekte der jüdischen Kultur nähergebracht. Durch die Ausgestaltung des Seminars konnten wir einen guten Einstieg in die Themen finden und waren motiviert, eigene Ideen zu entwickeln. Auch die Exkursionen und Kooperationen mit den externen Partnern waren tolle Erfahrungen für uns.“

Juliane Tomesch, Projektteilnehmerin