"Darum schlägt mein Herz für Europa"
Vom Hörsaal aufs Motorrad – seit über 12 Jahren ist André Niedostadek Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht am Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz. Doch er hat noch eine weitere Leidenschaft: Mit seinem Motorrad erkundet er auch entlegene Winkel Europas und wandelt dabei auf bedeutsamen Pfaden der europäischen Kulturgeschichte. Auf seinem Weg findet er viele Anküpfungspunkte in unsere heutige Zeit. Ein Gespräch mit Blick über den Tellerrand.
Wie wird man als Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht zum „motorisierten Pilger“?
Die Idee, eine Tour entlang der wenig bekannten Via Francigena von Canterbury nach Rom zu unternehmen, schwirrte mir schon ewig im Kopf herum. Aber wie das so ist im Leben. Manchmal braucht es eine Initialzündung, um dann auch tatsächlich in die Gänge zu kommen. Weil man für die komplette Strecke zu Fuß Wochen, wenn nicht Monate braucht, hatte ich mir überlegt, ob das nicht auch anders geht. Wie wäre es beispielsweise mit dem Motorrad? Europa quasi einmal mit dem Motorrad erfahren! Was man ja durchaus im doppeldeutigen Sinne verstehen kann. Aber ein offizieller Pilger bin ich dadurch nicht geworden. Der wird man nur, wenn man zu Fuß, mit dem Fahrrad oder auf einem Vierbeiner, wie einem Pferd, unterwegs ist. Ein Stahlross gilt nicht. Doch die Via Francigena ist ja nicht nur ein Pilgerweg. Sie ist auch eine alte Handelsroute und heute eine von mehreren anerkannten europäischen Kulturrouten.
Und ein neues Buch war auch gleich geplant?
Dass es zur Tour mit „Kurvengeflüster“ noch ein Buch geben würde, entwickelte sich eher beiläufig. Am Anfang habe ich viele Eindrücke und Hintergründe zunächst für mich festgehalten. Quasi als Urlaubserinnerungen. Aber dann habe ich nach und nach bemerkt, das könnte vielleicht auch für andere interessant sein. Gerade weil die Via Francigena so unglaublich viel bietet. Es geht ums Reisen, aber auch um Europa, um Kultur, um Geschichte und allerlei Anekdoten. Nicht zuletzt aber auch darum, zu entdecken, was einem selbst wichtig ist im Leben.
Was begeistert Sie an Europa?
Ich muss gestehen, ganz vorne steht gar nicht mal so sehr die große politische Idee, die wir mit Europa heute verbinden. Auch wenn beispielweise die offenen Grenzen ja keine Selbstverständlichkeit sind. Diese Entwicklung sollten wir wirklich wertschätzen. Das kenne ich aus meiner Jugend noch anders. Was mich selbst wirklich immer wieder aufs Neue begeistert, ist die unkomplizierte Möglichkeit, Neues kennenzulernen und Unbekanntes zu entdecken. Gerade auch, was den Alltag betrifft. Manchmal finde ich es spannender in einem Supermarkt herumzustöbern als in einem Museum.
Warum haben Sie sich für die Route entlang der Via Francigena entschieden?
Tatsächlich, weil die Stecke von England nach Italien verläuft. Das sind zwei Länder, denen ich persönlich sehr verbunden bin. In keinem anderen Land außerhalb Deutschlands habe ich so viel Zeit verbracht, wie in Großbritannien. Und Italien ist für mich nicht zuletzt mit unbeschwerten Kindheitserinnerungen verbunden. Außerdem soll es in Italien gutes Eis geben …
Was hat Sie auf Ihrer Reise am meisten beeindruckt?
Die Vielfalt Europas! Die Reise führte mich ja von England aus durch Frankreich und die Schweiz bis nach Italien. Was sich dort in ganz unterschiedlicher Hinsicht für ein breites Spektrum zeigt, ist wirklich beeindruckend. Wie übrigens auch die Offenheit und Hilfsbereitschaft, wenn mal wieder etwas nicht geklappt hat oder es gar nicht weiterging. Auch das ist ja durchaus vorgekommen. Als beispielsweise die Batterie gestreikt hat oder ich in einer echten Sackgasse steckte.
Welcher Moment war besonders?
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Moment in Frankreich. Da gibt es eine alte Zisterzienserabtei, die Klosterruine von Vauclair. Fernab von jeglichem Trubel mitten im Nirgendwo. Dieser Ort strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Da kann man regelrecht Kraft tanken. Ganz ähnlich war es etwas später an einer Stelle in Italien, wo der mittelalterliche Bischof Sigerich, auf den ja der heutige Verlauf der Via Francigena zurückgeht, den Fluß Po überquert haben soll. Zwei wirklich besondere Orte mit unvergessenen Momenten der Ruhe.
Welche Bezüge sehen Sie zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Und was können wir für die Zukunft lernen?
Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten. Das ist nicht von mir, sondern vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Ich glaube, da ist schon eine Menge dran. Wer sich mit Geschichte befasst, wird oftmals verblüffende Parallelen zur heutigen Zeit entdecken. Nehmen wir zum Beispiel die industrielle Revolution im 18. und 19. Jahrhundert. Die Folgen waren gravierend und krempelten die damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen komplett um. Nicht von heute auf morgen, aber nach und nach. Für viele Menschen damals war das zugleich mit Unsicherheiten verbunden. Und heute? Wir sprechen von einer digitalen Revolution. Auch jetzt ändern sich die Lebensumstände und die Arbeitswelt wieder. Stichworte wie „New Work“, „Arbeit 4.0“ oder „Zukunft der Arbeit“ sind in aller Munde. Und abermals scheint es viel Verunsicherung zu geben. Die manche übrigens aktuell auch zu ihrem Vorteil auszuschlachten versuchen. Was wir aus alledem für die Zukunft lernen können? Vielleicht, dass wir allen Unkenrufen zum Trotz die aktuellen Entwicklungen etwas unaufgeregter sehen sollten. Gerade, wenn man Entwicklungen in den größeren geschichtlichen Kontext einordnet. Dann kann man auch besser nötige Entscheidungen treffen, um die Zukunft zu gestalten. Für meinen Bereich, also das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, kann man sich beispielsweise fragen: Wie sollten die rechtlichen Regelungen künftig gestaltet sein, etwa wenn es um „Home Office“ oder das mobile Arbeiten insgesamt geht? Themen, die uns ja alle aktuell beschäftigen.
Was bedeutet Europa für Sie ganz persönlich?
Für mich persönlich sind entscheidende Wendepunkte in meinem Leben mit Europa verbunden. Das waren nicht viele, aber sie haben doch geprägt. Die Studienaufenthalte in Aberystwyth in Wales oder in Cambridge möchte ich beispielsweise nicht missen. Ebenso wenig wie so manche persönliche Begegnung, die bis heute nachwirkt. Das würde ich auch jedem wünschen. Die Möglichkeiten zu nutzen, Europa ganz persönlich zu entdecken.
24.09.2020
Author: Mandy Ebers
Image author: © Tim Bruns
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