Ein wahrhaft altersübergreifendes Thema lockte knapp 250 Studierende, Berufstätige und Senioren zur November-Vorlesung der GenerationenHochschule ins Wernigeröder AudiMax. Prof. Martin Kreyßig, Regisseur, Intellektueller und Hochschullehrer, bot unter dem Titel „Zeit – Dirigent in Medien und Alltag“ einen so anspruchsvollen wie unterhaltsamen Spaziergang durch Philosophie, Geschichte, Physik, Ökonomie, Kunst, Gesellschaft – und die jeweilige Rolle der Zeit. Rektor Prof. Dr. Armin Willingmann betonte, wie erfreut er „über einen Künstler in den eigenen Reihen“ ist, der bereits zum dritten Mal bei der beliebten Vorlesungsreihe doziert.
Der Professor für Digitales Bewegtbild erklärte gleich eingangs, dass wir eines kaum noch tun: Die Zeit einfach vorbei ziehen lassen. Über Saturn, das Sinnbild der alles verschlingenden und der wiederkehrenden Zeit, kam er zur Philosophie. „Wir leben im vierdimensionalen Raum, alle Zustände sind transitorisch, provisorisch und temporal“, betonte der Hochschullehrer des Fachbereichs Automatisierung und Informatik. Auch Erinnerung habe eine zeitliche Dimension, ihr sei daher nicht unbedingt zu trauen.
Weiter ging es mit Weltzeit und Lebenszeit, die bei Hirtenvölkern noch untrennbar verbunden waren. Bis heute künden Bauernregeln von der wiederholenden Struktur. Mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton standen Mensch und Erde plötzlich nicht mehr im Zentrum. Kulturelle Systeme sollten nun für Ordnung sorgen. „Die heutige Schule ist eine Übersetzung des jahrhundertealten klösterlichen Lebens. Ziel ist die ideale Verwendung von Zeit, konzentriert auf Zweck und Nutzen“, so der 55-Jährige. Die Einführung des Kalenders löste im 17. Jahrhundert den kaum bekannten „Duft der Zeit“ ab. „Bis zur Ankunft der Missionare in Fernost wurde sie mittels Weihrauch gemessen“, so Kreyßig. Die Uhr hingegen misst mechanisch, wie ein Vektor, der die unumkehrbare Richtung vorgibt. Im elektrischen Zeitalter ginge es heute jedoch um Vernetzung ähnlich unserem zentralen Nervensystem. Auch Massenmedien werden als ordnende, dem Weltenlauf die Taktung vorgebende Größen betrachtet.
Über die Schaffung der Weltzeit mit Datumsgrenzen und Zeitzonen kam Kreyßig zur Physik: „Das älteste Licht ist über 10 Milliarden Jahre gereist“, betonte der studierte Regisseur. Während dem Publikum angesichts des Raum-Zeit-Kontinuums noch der Schädel brummte, war Kreyßig bereits bei der technischen und sozialen Beschleunigung. „Das Tempo des Struktur- und Kulturwandels ist höher als die Geschwindigkeit der Generationenfolge, auch im Berufs- und Familienleben“, zitierte er den Jenaer Zeitforscher Hartmut Rosa. Heute spreche man von Lebensabschnittspartnern und was er den Studierenden beibringe sei in Windeseile überholt. Allzu pessimistisch wirkte Kreyßig jedoch nicht: „Worin wir Menschen unheimlich gut sind, ist unsere Fähigkeit zur Anpassung“.
Im nächsten Kapitel ging es um Zeitspeicher und -archive: Das seien Sterne, weil man auf sie in die Vergangenheit blickt, auch Gletscher, fossile Energie, Architektur, Museen oder Briefe; enthüllen sie doch wie früher gedacht wurde. Für Kreyßig ist insbesondere Musik Zeitkunst und macht diese emotional spürbar, wie John Cage mit „as slow as possible“. Von der Zeit in der Ökonomie und Benjamin Franklins epischem Zitat, dass Zeit Geld sei, kam der Dozent zum dramaturgischen Bogen im Film und dem Storyboard. „Filmrollen sind im Grunde ‚aufgerollte Zeit‘; die zweite große ‚Zeitkunst‘ neben der Musik“, so Kreyßig, der auch passende Filmtipps parat hatte wie „Modern Times“ von Charlie Chaplin, „Metropolis“ oder „Zurück in die Zukunft“. Unter dem Punkt „Gleichzeitigkeit – Echtzeit – Synchronisation der Informationen“ verdeutlichte der Professor welchen Wandel Informationsübermittlung durchlaufen hat vom Flugblatt hin zu Social Media.
Beim Thema „Arbeit: Wiederholung und Prozess“ diente Sisyphos als Versinnbildlichung – und Querverweis zum Vortragsbeginn. „Man mag ihn als glücklichen Menschen sehen, weiß er doch, was er morgen tut“, meinte der Dozent und erinnerte damit an die Interpretation von Albert Camus aus dem Jahre 1942. Abschließend erklärte Kreyßig die Chronobiologie, jenes „uhrenartige Verhalten in uns drin“, und fand den Weg zurück zur Kunst. Er sprach über Zeitkapseln, in denen Andy Warhol seine Tage dokumentierte, und den Konzeptkünstler Roman Opalka, der sein Altern – und die eigene Endlichkeit – mit einem täglichen „Selfie“ illustrierte.
Etwas später als üblich endete der atemlose Vortrag. Die Diskussionen im Anschluss zeigten, dass so mancher die Zeiger der Uhr gern zurück gedreht hätte, um in die spannenden Themen erneut einzutauchen. „Am Schluss lief mir etwas die Zeit davon, gern hätte ich noch mehr erzählt“, bekannte der Dozent gewohnt ironisch.