Auszeichnung für das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt
Es ist ein Kunstprojekt, das weltweit seinesgleichen sucht – mitten in Halberstadt, in den ehrwürdigen Klostermauern von St. Burchardi erklingt seit dem 5. September 2001 das langsamste Musikstück der Welt. Ein Klangdenkmal für den Komponisten John Cage, das internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht und über das schon die New York Times berichtete.
Im Rahmen des 15. Klangwechsels fand in diesem Jahr eine besondere Ehrung statt – Gründungsdekan des Fachbereichs Verwaltungswissenschaften Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer erhielt als einer der Wegbereiter des Projekts den Kulturpreis der Stadt Halberstadt. Die Auszeichnung wurde durch Oberbürgermeister Daniel Szarata übergeben, der den Preisträger persönlich im Cage-Haus ehrte. Kulturstaatssekretär Sebastian Putz überbrachte die Wertschätzung der Landesregierung für das Engagement. Im Namen der John-Orgel-Cage-Stiftung nahm Prof. Dr. Neugebauer den Preis entgegen und spendete zugleich das Preisgeld, der mit 250 Euro dotierten Auszeichnung, denn das viel beachtete Projekt benötigt Unterstützung durch Spenden, um fortbestehen zu können.
Am 4. September 2640 werden die letzten Töne des wohl langsamsten Musikstücks der Welt erklingen. Heute ist das alles noch ein musikalisches Gedankenspiel, kaum vorstellbar, es ist eine Projektion von Noten in die Zukunft. „Alle Kunst will Musik werden“, sagt Schauspieler, Geiger und Maler Armin Mueller-Stahl. Die Werke des amerikanischen Komponisten John Cage sind Kunst und eröffnen neue (Klang-)Welten. Die Interpretation seiner Stücke ist interdisziplinär und so findet sich der Ursprung des Kunstprojekts auf einem Orgelsymposium in Trossingen.
1998 diskutierten dort Organisten, Orgelbauer, Musikwissenschaftler, Theologen und Philosophen. Sie sprachen über die spieltechnischen, ästhetischen und philosophischen Aspekte von Cages „ORGAN²/ASLSP“. Die Tempoanweisung „As SLow aS Possible“ wirft die Frage auf, wie langsam „so langsam wie möglich“ sein kann. Die Antwort ist für die Experten in Halberstadt zu finden: Grundsätzlich kann man das Stück unendlich denken und spielen – zumindest so lange, wie die Lebensdauer einer Orgel ist und so lange, wie es Frieden und musische Begabungen in künftigen Generationen gibt. Cage in Halberstadt steht damit für die Sehnsucht nach Unendlichkeit und ist gleichzeitig ein Versprechen, dass Menschheit und Kunst ewig sein mögen.
Warum ist aber gerade Halberstadt die Stadt der Sehnsüchtigen, die das „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ ins Leben gerufen haben? Zunächst gab es hier die um die Jahrtausendwende leerstehende Burchardi-Kirche. Und dann muss man sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begeben. Im Jahr 1361 wird in Halberstadt eine sehr große Orgel, eine Blockwerksorgel, gebaut. Diese Orgel stand im Dom und hatte wahrscheinlich zum ersten Mal eine 12-tönige Klaviatur. Das Schema dieser Klaviatur wird noch heute auf Tasteninstrumenten verwendet. Halberstadt kann damit als Wiege der modernen Musik angesehen werden. Rein rechnerisch gesehen, sind es von 1361 bis zum Beginn des Projekts im Jahr 2000 genau 639 Jahre.
Simpel ist Cage nicht, um ihn zu verstehen, muss man nachdenken. Genau das ist es, was seine Kompositionen auch mit dem Fachbereich Verwaltungswissenschaften verbinden. Als das Orgel-Projekt zur Jahrtausendwende startete, war der Gründungsdekan des Fachbereichs Verwaltungswissenschaften, Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer, einer der maßgeblichen Wegbereiter in Halberstadt. In der leerstehenden Burchardi-Kirche begann der Mythos, doch zunächst einmal war hier: Nichts. Ein Zustand, den Rainer O. Neugebauer kennt. Als Gründungsdekan des Fachbereichs Verwaltungswissenschaften ist er der Mann des Anfangs.
Über 600 Jahre lang war St. Burchardi Zisterzienserkloster, 190 Jahre lang diente die Kirche als Scheune, Lagerschuppen, Schnapsbrennerei und Schweinestall. Vom Halberstädter Ehrenbürger Johann-Peter Hinz wurde die romanische Kirche für dieses außergewöhnliche Vorhaben, das die Faszination vieler Menschen in der Welt weckt, neu entdeckt. Hinz war Metallgestalter, Künstler, Politiker und Philanthrop. Für sein Engagement und seine herausragende Rolle beim Wiederaufbau von Halberstadts Stadtzentrum erhielt er 1992 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Dank seiner Initiative, der Unterstützung der Stadt Halberstadt und der Hilfe vieler Bürger, unter ihnen auch Rainer O. Neugebauer, erhielt St. Burchardi ein weiteres Leben. Das Kloster wurde gereinigt, durch ein neues Dach vor Regen geschützt, Fenster wurden eingesetzt und die Kirche in der Substanz soweit gesichert, dass ein Blasebalg nach dem Vorbild der ersten Faber-Orgel gebaut werden konnte.
Im September 2001 begann die Aufführung mit einer Pause. Seit 2003 erklingen auch die ersten Orgelpfeifen: „As SLow aS Possible“. Was als musikalisches Vorhaben begann, ist inzwischen Teil des Erbes von Johann-Peter Hinz und Lebensaufgabe von Rainer O. Neugebauer geworden. Vor allem aber ist es zugleich ein Symbol des Vertrauens in die Zukunft.
Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Fachbereichs Verwaltungswissenschaften im Jahr 2018 wurde das „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ in Halberstadt mit einer besonderen Spendenaktion unterstützt: Durch den Verkauf von 20 limitierten und vom Fachbereich herausgegebenen Briefmarken mit Motiven des Hochschulstandortes Halberstadt konnte das Klangjahr 2198 gestiftet werden. Im Jahr 2198 würde der Fachbereich sein 200. Jubiläum feiern. Aber auch 20 Jahre sind zumindest schon eine kleine Ewigkeit.
Vorsitzender des Kuratoriums der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt, Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer, über zeitlose Klänge: „Wie ging es los mit dem John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt in Halberstadt? Ausgedacht im Jahr 1998 auf einer Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen, über die Verbindung zu Peter Hinz in die leerstehende Burchardi-Kirche gekommen, starteten wir das Projekt im Jahr 2000 – aus Geldmangel ohne Orgel, nur mit Lesungen, Musik und Tanz. Ein Jahr später ging es dann richtig los, mit dem Blasebalg und einer 17-monatigen Pause, die dann im Februar 2003 mit drei Tönen aus einer Orgel mit immerhin sechs Pfeifen beendet wurde, vor lauter Ungeduld allerdings 11 Monate zu früh. 2022 fand der 15. Klangwechsel statt, der nächste folgt am 5. Februar 2024.
Cage ging es um die Befreiung der Töne und Klänge von jeder Rhetorik und Moral. Töne und Klänge haben kein Ziel, keine Intention, keinen Sinn. Sinn-Losigkeit als bewußte Abwesenheit von (Be)-Deutung. Damit verweist die Musik von John Cage als Vorschein auf eine Welt ohne irgendwelche Zwecke oder heteronomen Verfügungen, Utopie der Herrschaftslosigkeit. ORGAN²/ASLSP von John Cage in Halberstadt, ein Projekt aus nichts als Zeit und Luft, getragen von einer kleinen Gruppe ehrenamtlicher Enthusiasten, eine musikalische Flaschenpost nach der Idee eines amerikanischen Anarchisten, der dem Zen-Buddhismus nahestand. Ein gleichzeitig radikales, irritierendes, offenes und äußerst sanftes Kunst-Werk, „…’s geht über Menschenwitz … des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen.“ Ein Traum so seltsam angezettelt. Eine ehemalige Klosterkirche als Klang(t)raum, der mehr als 639 Jahre Vergangenheit sichtbar werden lässt und mit der Kraft der Ernst Bloch’schen Hoffnung für mehr als 639 Jahre Zukunft gefüllt ist."
07.07.2022
Autor/Autorin: Mandy Ebers
Fotograf/Fotografin: © Tim Bruns
Bildrechte: © Tim Bruns/Hochschule Harz