Forschungsnews

Von verregneten Urlauben und verlassenen Kirchen bis zu effizienten Elektromotoren und Schleichwerbung in Hollywood – zwei Tage „Never Stop (Re-)Searching“ im virtuellen Raum

23. und 24.06.2021
Kurzbericht von "Never Stop (Re-)Searching" | Christian Reinboth

Allen vier Jahren steht besonders forschungsstarken Professorinnen und Professoren der Hochschule Harz ein sogenanntes „Forschungssemester“ zu, in dem sie von ihren Lehrverpflichtungen entbunden werden, um sich für einige Monate mit ganzer Kraft einem Forschungsvorhaben widmen zu können. Die Ergebnisse dieser Forschungssemester werden seit zwei Jahren regelmäßig hochschulöffentlich im Rahmen der Vortragsreihe „Never Stop (Re-)Searching“ vorgestellt, in der außerdem Doktorandinnen und Doktoranden der Hochschule Einblick in den aktuellen Stand ihrer Promotionsvorhaben geben. Die Vortragsreihe konnte sich rasch als Ankerpunkt für den interdisziplinären Austausch zwischen den drei Fachbereichen sowie zwischen erfahrenen Forschenden und dem wissenschaftlichen Nachwuchs etablieren und bot auch anderen Beschäftigten sowie Studierenden die Möglichkeit, einen Einblick in die persönlichen Forschungsinteressen einzelner Professorinnen und Professoren zu erlangen.

Nachdem aufgrund der Pandemielage seit etlichen Monaten keine größeren Präsenzveranstaltungen mehr durchgeführt werden konnten, wurde die schon längere Zeit aufgeschobene Vorstellung der Ergebnisse aus elf Forschungssemestern der Jahre 2019 und 2020 am 23. und 24. Juni in digitaler Form nachgeholt. Moderiert von Prof. Dr. Georg Westermann als Prorektor für Forschung und Transfer und organisiert von Nadine Raabe aus dem Application Lab und Kathleen Vogel von der Stabsstelle Forschung, konnten mehr als 50 angemeldete Teilnehmerinnen und Teilnehmer an jeweils zwei Abenden in zwölf Vorträgen viel Spannendes aus der aktuellen Hochschulforschung erfahren.

Den Auftakt machte Prof. Dr. Harald Zeiss vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, der die Art von Forschungsergebnis vorstellte, über die man – zu Unrecht – sonst eher wenig hört: Ein negatives. Untersucht hatte er den vermuteten Zusammenhang zwischen schlechtem Urlaubswetter sowie Art und Umfang von Reklamationen – nahm man doch in der Reisebranche seit Jahren an, dass frustrierte Reisende sich über vermehrte Beschwerden aus eigentlich nichtigem Anlass selbst für verregnete Urlaubstage zu entschädigen versuchen. Finden ließ sich ein derartiger Zusammenhang in den untersuchten Daten jedoch nicht – die Enttäuschung über schlechtes Wetter verleitet Urlauberinnen und Urlauber also nicht in Größenordnungen zu überzogenen Rückforderungen.

Im Anschluss an Prof. Zeiss stellte seine Fachbereichskollegin Prof. Dr. Elisabeth van Bentum die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zum Risikomanagement im Personalwesen vor. Diese finden Eingang in die seit 2019 erfolgreich angebotene Fortbildungsreihe „Praxisbaukasten Personal“, in dessen Rahmen sich Personalverantwortliche zu Themen wie Employer Branding, Onboarding-Prozessen und der Kunst der rechtzeitigen Übertragung von Wissen und Know-How von altersbedingt ausscheidenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf den Nachwuchs informieren können. Gerade letzterer Aspekt ist mit Blick auf die Vielzahl der in den nächsten fünf bis zehn Jahren anstehenden Verrentungen sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst von zunehmender Bedeutung.

Der dritte Vortrag des ersten Abends war dann einem juristischen Thema gewidmet: Prof. Dr. Klaus Lammich hat sich in seinem Forschungssemester intensiv mit der jüngsten Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG) und insbesondere mit der sich verändernden Rolle der Bundesnetzagentur (BNetzA) aufeinandergesetzt. Die Hauptaufgabe dieser in weiten Teilen der Bevölkerung wenig bekannten Regulierungsbehörde besteht in der Förderung des wirtschaftlichen Wettbewerbs in den fünf Netzmärkten Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Bahnverkehr.

Die nächsten 30 Minuten brachte Prof. Dr. Axel Kaune seinen Zuhörerinnen und Zuhörern die Bedeutung von agilem Handeln in der „VUCA-Welt“ nahe. VUCA steht dabei für den zunehmenden Einfluss der vier Herausforderungen Volatilität (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) auf die durch die Digitalisierung getriebene Arbeitswelt. Im Rahmen seines letzten Forschungssemesters – Prof. Kaune trat bereits im April dieses Jahrs den wohlverdienten Ruhestand an – setzte sich der Experte für Veränderungs- und Konfliktmanagement mit der Frage auseinander, wie agile Management-Methoden Unternehmen in die Lage versetzen können, langfristig in der besagten „VUCA-Welt“ zu überleben.

Den letzten Vortrag des ersten Abends hielt mit Prof. Dr. Uwe Manschwetus ein Spezialist für Kulturmarketing. Prof Manschwetus hat sich in seinem Forschungssemester sowie in dem von ihm und Prof. Dr. Matilde Groß geleiteten Forschungsprojekt „KONZiL“ mit einer Frage befasst, die in vielen Städten und Kommunen diskutiert wird: Was wird eigentlich aus den vielen historischen (und fast immer denkmalgeschützten) Kirchengebäuden, deren Gemeinden so stark geschrumpft sind, dass sie nicht weiter als Kirchen betrieben werden können oder sollen? Während im Rahmen von „KONZiL“ noch ein Umnutzungskonzept für ein konkretes Kirchgebäude – den Umbau der Wernigeröder Liebfrauenkirche in eine moderne Kultur- und Konzerthalle – stand, konnte Prof. Manschwetus während des Forschungssemesters eine Datenbank mit mehr als 300 Beispielen für Umnutzungen seit 1990 zusammenstellen – von Bibliotheken und anderen Kultureinrichtungen über soziale Institutionen bis hin zu Restaurants und Kletterhallen. Die bislang einzigartige Zusammenstellung von Daten dieser Art soll in den kommenden Monaten weiter beforscht werden und Aufschluss darüber geben, ob sich bundesweite Best Practices im Umgang mit nicht mehr genutzten Kirchengebäuden identifizieren lassen.

Der zweite Veranstaltungsabend öffnete mit einem Forschungsvorhaben, das in Vorfeld bereits viel mediales Interesse auf sich vereinen konnte und beispielsweise in der WELT, in der ZEIT oder in der Süddeutschen Zeitung aufgegriffen wurde: Prof. Dr. Sven Groß vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften ging während seines Forschungssemesters der Frage nach, ob die braunen Hinweisschilder auf touristische Ziele, Naturparks und andere Sehenswürdigkeiten an Autobahnen tatsächlich von Autofahrerinnen und Autofahrern wahrgenommen werden – und inwiefern sie zu Verhaltensänderungen führen. Eine repräsentative Panelbefragung deutscher Autofahrerinnen und Autofahrer erbrachte dabei unter anderem, dass fast jeder sechste Befragte (17,1%) bereits mindestens einmal aufgrund einer touristischen Unterrichtungstafel spontan von einer Autobahn abgefahren ist, um die abgebildete Sehenswürdigkeit, Stadt oder Landschaft zu besuchen. Die Ergebnisse dieses Forschungssemesters lassen sich unter anderem in einer Open Access-Ausgabe der „Harzer Hochschulschriften“ nachlesen.

Dem Vortrag von Prof. Groß folgte eine Einführung von Prof. Dr. Michael-Thaddäus Schreiber in den Bedarf an Marktforschungsleistungen im sogenannten MICE-Segment (Meetings, Incentives, Conventions und Events) – einen Markt, in dem er schon seit 2006 mit dem von ihm geleiteten Europäischen Institut für TagungsWirtschaft (EITW) erfolgreich eine Vielzahl an praxisnahen Forschungsleistungen anbietet. In seinem jüngsten Forschungssemester führte er unter anderem eine umfangreiche Datenerhebung durch, um die bislang kaum erforschten Potentiale für ein vergleichbares Veranstaltungs-Monitoring in europäischen Großstädten auszuloten.

Aus dem Fachbereich Verwaltungswissenschaften folgte ein Beitrag zu einem gänzlich anderen Themenfeld: Die Kommunikations- und Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Birgit Apfelbaum befasst sich hier bereits seit 2015 mit der Überwindung von Hürden bei der bestmöglichen Integration von Geflüchteten – insbesondere in den Arbeitsmarkt. In ihrem Forschungssemester befasste sie sich im Rahmen der Projekte „INTEGRIF II“ und „ERASMI“ mit der Frage, welchen Wert national und international aufgestellte Kooperationsnetzwerke aus Akteuren des integrierten Flüchtlingsmanagements im Integrationsprozess haben und wie man deren Zusammenwirken optimieren und ganz gezielt benötigte Kompetenzen aufbauen und verbessern kann. Ein entsprechendes White Paper mit Best Practice-Empfehlungen ist – in englischer Sprache – zum Download über die Webseite der Hochschule Harz verfügbar.

Mit Prof. Dr. Dirk Beyer vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften berichtete der einzige Experte der Hochschule für die tschechische Wirtschaft über seine Untersuchung zu Größen- und Ländereinflüssen auf die Profitabilitätstreiber – also der Faktoren, die sich am stärksten auf die Rentabilität von Betrieben auswirken – deutscher und tschechischer Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Unternehmenslandschaften beider Länder – etwa im Agrarbereich oder bei der Beteiligung von Stakeholdern – beschäftigt Prof. Beyer, der regelmäßig in tschechischsprachigen Fachmedien publiziert und während seines Forschungssemesters u.a. Vorträge an der Westböhmischen Universität Pilsen hielt, bereits seit vielen Jahren.

Der erste technisch ausgerichtete Vortrag des zweiten Abends wurde von Prof. Dr. Rudolf Mecke vom Fachbereich Automatisierung und Informatik gehalten, der sich in seinem Forschungssemester an der Verbesserung der Effizienz von Elektroantrieben geforscht hatte und dabei belegen konnte, dass der Einsatz von Mehrstufen-Wechselrichtern wesentlich zur Effizienzsteigerung beitragen kann – ein Ergebnis, das in den kommenden Jahren weiter vertieft und – wenn möglich – gemeinsam mit Partnern aus Forschung und Wirtschaft in die praktische Umsetzung gebracht werden soll.

Mit Luis Octavio Noschang beteiligte sich auch ein aktueller Doktorand der Hochschule Harz am zweiten Vortragsabend. Herr Noschang promoviert seit 2018 kooperativ an der Uni Hohenheim über die Wahrnehmung von Product Placement in audiovisuellen Medien. Aktuell wertet er hierzu Aufnahmen von hunderten Probandinnen und Probanden beim Ansehen von Folgen der US-Sitcom „Big Bang Theory“ aus, bei denen sich zeigt, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer längst nicht immer dort liegt, wo die Werbetreibenden sie gerne sehen würden.

Den letzten Vortrag des zweiten Abends hielt Prof. Dr. René Simon vom Fachbereich Automatisierung und Informatik zum hochaktuellen Thema „digitale Zwillinge“. Dabei handelt es sich um virtuelle Repräsentationen von Objekten aus der realen Welt – wie etwa von Industrierobotern oder Fertigungsanlagen – mit deren Hilfe komplette Fertigungsprozesse vorab am Rechner simuliert werden können, um kostspielige Fehler bei der späteren Realisierung von Industrieanlagen erkennen und vermeiden zu können. Prof. Simon hat diese Methode nicht nur erfolgreich – im Labor für Industrieroboter – in die Lehre an der Hochschule Harz integriert, sondern arbeitet auch seit vielen Jahren als Mitglied verschiedener Gremien in der International Electrotechnical Commission (IEC) sowie in der Deutschen Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE (DKE) aktiv an der Normierung und Standardisierung dieser zukunftsweisenden Technologie mit.

Ein abschließendes Fazit kam von Moderator Prof. Dr. Georg Westermann, der insbesondere die hohe Teilnehmerzahl sowie die zahlreichen interessierten Fragen und engagierten Diskussionen zwischen den Vorträgen hervorhob: „Auch wenn wir uns schon darauf freuen, demnächst wieder Präsenzveranstaltungen abhalten zu können, sollten wir sicherlich darüber nachdenken, die Möglichkeit der virtuellen Teilnahme über hybride Formate beizubehalten. Das große Interesse an den persönlichen Forschungsinteressen unserer Professorinnen und Professoren nicht nur im Kollegium, sondern auch in der Verwaltung und insbesondere in der Studierendenschaft, ist überaus beeindruckend und zeigt, dass es richtig war, die Inhalte der Forschungssemester in dieses öffentliche Format zu holen.“

Die nächste „Never Stop (Re-)Searching“-Veranstaltung ist für das Sommersemester 2022 geplant.